Mit Autismus – einfach Linus

Mit Autismus – Einfach Linus
Eine Geschichte aus der Sicht eines Kindes
Ich heiße Linus. Ich bin acht. Vielleicht denkst du jetzt, dass ich klein bin. Das bin ich auch. Aber in meinem Kopf bin ich groß. Da ist Platz für alles – nur nicht immer für euch.
Morgens, wenn der Wecker meiner Mama klingelt, ist das wie ein Gewitter. Ich erschrecke jedes Mal, auch wenn es jeden Tag passiert. Ich wünschte, die Welt würde nicht so laut aufwachen. Mein Kopf kann Geräusche nicht sortieren. Alles kommt auf einmal. Das Klappern von Tassen, das Knacken im Holz, das Flüstern im Flur. Und dann redet Mama.
„Linus, aufstehen.“
Ich weiß, was sie will. Aber ich brauche noch Zeit. Ich muss erst meine Gedanken sortieren. Wie Perlen auf einer Schnur. Wenn ich eine vergesse, fühlt sich alles falsch an.
Im Badezimmer sind die Fliesen kalt. Ich mag sie nicht. Sie sind zu weiß, zu glatt. Ich zähle lieber die Fugen: eins, zwei, drei... sechsundvierzig. Ich mache das oft. Zahlen sind wie Freunde. Sie verändern sich nicht, sie schreien nicht, sie fordern nichts.
In der Schule ist alles schwer. Nicht wegen der Aufgaben. Ich kann rechnen wie ein Blitz. Aber die Menschen sind wie Rätsel ohne Anleitung. Wenn jemand lacht, weiß ich nicht, ob er glücklich ist oder ob er mich auslacht. Wenn jemand „Schon gut“ sagt, klingt es manchmal wie „Du bist falsch“. Dabei habe ich nur gefragt, warum der Baum im Bild lila ist. Ich wollte es wirklich wissen.
Die Lehrerin sagt oft: „Du musst dich mehr anpassen, Linus.“
Ich verstehe das nicht. Muss ich jemand anderes sein?
Wenn es mir zu viel wird – die Stimmen, die Blicke, das Licht – dann ziehe ich meine Kapuze über den Kopf. Ich mache die Welt kleiner, leiser, sicherer. Dann sagen sie, ich würde „zumachen“. Aber das stimmt nicht. Ich mache mich nur sicher.
Zuhause ist es besser. Meistens. Ich habe meine Dinosaurier. Sie reden nicht, sie brüllen nicht. Ich ordne sie jeden Abend neu. Nicht, weil ich „komisch“ bin, wie Tom aus der Klasse sagt, sondern weil es mir Ruhe gibt. Wenn alles an seinem Platz ist, ist auch mein Herz ruhig.
Mama sagt oft: „Du bist besonders, Linus.“
Ich glaube, sie meint es lieb. Aber manchmal will ich einfach nur sein – nicht besonders, nicht anders. Einfach Linus.
Ich sehe die Welt nicht falsch. Ich sehe sie anders. Vielleicht ist es für euch schwer zu verstehen. Aber vielleicht – nur vielleicht – könnt ihr ja trotzdem ein Stück mit mir gehen. In meiner Welt. Nur ein kleines Stück. Wenn ihr leise seid, zeige ich euch die Zahlen in den Fliesen. Oder den Dinosaurier, der nie wütend wird. Oder wie schön es ist, wenn alles einfach still ist.
Einfach Linus.