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Eine Geschichte über Buchstaben

Die Geschichte - Max und der fliegende Teddy

Anhören oder Lesen - Wie gewünscht

Max lag im Bett und hatte Bauchweh. Eigentlich sollte er schlafen, denn es war schon spät. „Morgen ist wieder Schule“, hatte seine Mutter gesagt, „da musst du frisch und munter sein!“ Er hatte oft Bauchweh, eigentlich fast immer, seit..., ja seit er in der Schule gehänselt, geärgert und ausgelacht wurde. Seine Mitschüler riefen ihn nicht mehr beim Namen sondern nur noch „Hallo Dummkopf“, „Na, Blödmann?“ oder „Hey, Penner!“. Das Gemeine daran war, dass es einfach nicht stimmte! Max konnte vieles, das andere nicht oder nicht so gut konnten. So malte er zum Beispiel immer die schönsten Bilder der Klasse, konnte komplizierte Gedichte schon nach zwei mal Hören auswendig aufsagen oder Lieder auf dem Klavier nachspielen, wenn er sie ein paar mal gehört hatte. Und beim Fußball war er ein super Torwart!

Nur die Sache mit den Buchstaben , die war einfach komisch. Die entwickelten nämlich immer ein ganz seltsames Eigenleben. Wenn Max Buchstaben anschaute, wurden sie wie kleine Tiere oder Zwerge, die über das Papier huschten, sich versteckten, die Reihenfolge änderten, Kopfstände machten oder plötzlich als ihr eigenes Spiegelbild daherkamen. Am Anfang hatte Max das noch lustig gefunden. Er hatte die Buchstaben gemocht und mit ihnen herrliche Spiele gespielt. Aber bald merkte er, dass Frau Lentermann, das war seine Deutschlehrerin, das gar nicht komisch fand. Frau Lentermann fand fast nie irgendetwas komisch und Max' tanzende Buchstaben schon gar nicht.
„'Lied' schreibt man mit 'ie', nicht mit 'ih' sagte sie dann zum Beispiel.“ Max fand das blöd, denn schließlich sagte man ja nicht „Spi-El“, sondern „Schbihl“, und nicht RE-ise, sondern „Raise“. Und nicht „Li-ED“, sondern „Liht“. Denn das konnte Max ja noch verstehen, dass man in der Schrift einfach das nachmachte, was man sagte. Aber etwas völlig anderes schreiben als sagen? Warum bloß? Vor allem, wenn immer dann die Buchstaben wieder ihren Schabernack anfingen, wenn er versuchte, sich zu erinnern, ob das Wort „Ahmt“ jetzt „Abänt“, „Abend“ oder „Ahbnt“ geschrieben wurde.

Irgendwann fing Max dann an, Witze über das Schreiben zu machen. Die Frau Lentermann natürlich gar nicht lustig fand. Seine Mitschüler lachten anfangs noch über seine Späße, hörten dann aber bald damit auf und guckten Max nur noch komisch an. Und dann fing das mit dem Bauchweh an, vor allem abends, beim Einschlafen. Wenn am nächsten Morgen wieder Schule war, und er frisch und munter sein sollte. Und er wieder seine Hausaufgaben im Schreiben oder Lesen nicht geschafft hatte. Seit Frau Lentermann gesagt hatte, dass er nicht in die zweite Klasse käme, wenn das so weiterginge. Dass er auf eine Sonderschule gehörte. Und seit seine Eltern ihn auch nur noch traurig ansahen, wenn wieder einmal ein Anruf von Frau Lentermann mit schlechten Nachrichten aus der Schule bei ihnen ankam.

Max wälzte sich auf die andere Seite, presste die Hand auf den Bauch und weinte ein bisschen. So lag er eine ganze Weile. Da, ganz plötzlich hörte er eine stimme. Sie kam unter seinem Bett hervor! Max bekam ein wenig Angst, aber nur ganz kurz, denn die Stimme klang eigentlich ganz freundlich. „He, Max, kannst du mich vielleicht mal hier rausholen?“ Max nahm seine Taschenlampe vom Nachttisch und schaute vorsichtig unter sein Bett. Da war nichts. Nur ein paar Legosteine. Und hinten in der Ecke lag Paul, sein alter Teddy, mit dem er schon lange nicht mehr gespielt hatte. Aber halt: Hatte Paul ihm eben zugewinkt? Doch, tatsächlich! Und er blickte ihn mit seinen funkelnden Glasaugen ganz munter an und sagte: „Na also! Wenn du jetzt bitte die Freundlichkeit hättest? Ich hab' nicht die ganze Nacht Zeit!“ Max war so verblüfft, dass er von seiner Matratze rutschte. Er musste weit unter das Bett kriechen, bis er Paul mit einer Hand zu fassen bekam. Dann setze er sich mit dem Teddy in der Hand auf den Bettrand. Paul nieste: „Ganz schön staubig da unten! Guck doch mal, wie ich aussehe!“ Tatsächlich hingen an Paul mehrere kleine Staubflusen, die Max rasch abstreifte. „Aber wieso – ich meine, wie kannst du...?“ „Mit dir reden?“ fragte Paul. „Das kann ich eigentlich schon immer! Du bekommst es nur meistens nicht mit. Aber beute ist eine besondere Nacht!“ „Eine besondere Nacht?“ fragte Max, „Wieso das denn?“ „Weil du heute deine 2345. Geburtsnacht hast, deshalb! Wusstest du das nicht?“ „Nein“, stotterte Max verwirrt, „aber was bedeutet das denn?“ „Das bedeutet, dass ich hier sitze, mit dir rede und wertvolle Zeit verplempere. Wir sollten die Zeit nutzen und etwas unternehmen! Ach ja, aber erst musst du dir etwas wünschen!“ „Etwas wünschen? Was soll ich mir denn - … ich meine, ich weiß doch nicht...“ „Jetzt hör aber auf“, schnaufte Paul „Es wird doch wohl etwas geben, das dir ganz besonders wichtig ist und das du dir mehr wünschst als alles andere?“

Max dachte nach. Es gab eine Menge Sachen, die er sich wünschte. Ein ferngesteuertes Auto zum Beispiel. Ein Fernglas. Aber das wünschte man sich doch zum Geburtstag oder zu Weihnachten und nicht von seinem Teddy in der 2345. Geburtsnacht! Und dann war es ihm plötzlich klar: „Ich wünsche mir, dass ich besser lesen und schreiben lerne, dass ich in der Schule nicht mehr ausgelacht werde und dass Frau Lentermann mich nicht mehr bestraft, weil ich mit den Buchstaben alles falsch mache!“ Siehste, geht doch!“, brummte Paul. „Na, dann wollen wir mal. Bist du bereit?“ „Bereit? Wozu?“, fragte Max verwundert. „Für einen kleinen Rundflug“, erwiderte Paul, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. „Rundflug? Womit denn? Kannst du denn fliegen?“ „Na aber klar doch! Wir Teddys sind hervorragende Flieger, wenn man uns lässt. Und ich kann dich sogar mitnehmen. Du musst nur das Fenster öffnen und mein rechtes Bein mit deiner linken Hand anfassen. Den Rest mache ich. Du wirst sehen, es geht ganz leicht! Du darfst mich nur nicht loslassen, so lange wir fliegen, sonst fällst du runter!“ Max war etwas mulmig zumute. Dann aber machte er sich klar, dass er ja schließlich seine 2345. Geburtsnacht nicht vergeuden durfte, ging zum Fenster, öffnete es, und packte Paul entschlossen mit der linken Hand am rechten Bein. Und siehe da, auf einmal wurde er ganz leicht, noch leichter, er verlor den Boden unter den Füßen, schwebte ein Stück in die Höhe, wie ein mit Gas gefüllter Luftballon! „Achtung, Beine nach hinten Wegstrecken! Sonst bleibst du am Fenster hängen!“ hörte er den Teddy rufen. Max gehorchte. Es ging ganz leicht. Er streckte sich nach hinten, schwebte fast waagerecht in seinem Zimmer, die nach vorn gestreckte Hand fest an Pauls Bein. Dann spürte er einen leichten Zug nach vorne und schwebte durch das geöffnete Fenster in die kühle Nachtluft hinaus.

Es war atemberaubend! Paul hatte rasch an Höhe gewonnen und flog jetzt mit Max im Schlepptau einige gemächliche Runden über Max' Haus. Er sah die vom Mondlicht beschienenen Dachziegel unter sich vorbeiziehen, den Garten mit seinem Baumhaus, das Nachbargrundstück von Elsners, mit deren kleiner Tochter Lina Max manchmal spielte. Jetzt überquerten sie im Steigflug die Straße und näherten sich dem Kirchturm. „Pass auf!“, schrie Max, denn er fürchtete, Paul könnte mit ihm zusammen an der Kirchturmspitze hängen bleiben. Aber Paul brummte nur und zog in einer eleganten Kurve am Goldkreuz der Kirchturmspitze vorbei. Schon kam das Schulgelände mit dem alten Backsteinbau, dem gepflasterten Schulhof und den Kastanienbäumen in Sicht. Max krampfte sich der Magen zusammen, als er an die vielen Stunden dachte, die er in diesem Gebäude schwitzend und mit rotem Kopf verbracht hatte. Und wie um ihm seine Qualen noch deutlicher ins Bewusstsein zu rufen, ging Paul jetzt in einen Sinkflug über und drehte eine knappe Kurve vor den Fenstern seines Klassenzimmers. Max konnte den Text der gestrigen Stunde, den er wieder und wieder zu lesen und abzuschreiben versucht hatte, noch an der Tafel stehen sehen. „Muss das sein, dass du mich hier hinbringst?“, fragte er kläglich. „Muss nicht, aber vielleicht hilft es dir, etwas zu ändern“, gab Paul rätselhaft zur Antwort, um dann ganz plötzlich wieder aufzusteigen und in rasantem Tempo über das Dach des Schulhauses abzudrehen.

Die Straßen hinter der Schule kannte Max nicht so gut; hierher kam er nur selten. Und von oben sah alles ohnehin noch verwirrender aus, so dass Max bald die Orientierung verlor. Allerdings waren die Gassen hier deutlich belebter. Überall sah man Gestalten, die sich alle offensichtlich in Richtung auf ein gemeinsames Ziel zu bewegen schienen. „Wo wollen diese Leute alle hin?“ fragte Max. Paul schmunzelte. „Diese 'Leute', wie du sie nennst, gehen zur großen Buchstabenparty heute Nacht in die Kurstraße 35.

Aber sieh selbst! Füße nach unten strecken!“ Paul hatte rasch an Höhe verloren und landete sanft in der Straße vor einem eher unscheinbaren Haus, aus dem aber helles Licht und fröhliche Musik klang. „Aber das sind ja..-“ Max verschlug es die Sprache, kaum dass er wieder festen Boden unter den Füßen verspürte. „Buchstaben, korrekt!“, ergänzte Paul lächelnd. „Was meinst du wohl, wer sonst auf eine Buchstabenparty geht?“ Max gab keine Antwort, zu sehr war er damit beschäftigt, die höchst unterschiedlichen Gestalten zu bestaunen, die von allen Seiten auf das Haus zuströmten. Eben marschierte ein „B“ mit kurzen Beinen, dickem Bauch und rotem Kopf schnaufend vorbei, gefolgt von einer groß gewachsenen „L“-Dame in einem altmodischen lila Abendkleid. Eine rundliche „W“-Mutter kam offensichtlich mit ihren Kindern, einem quirligen kleinen „t“ und einem aufgeregt schnatternden „y“-Mädchen in gelbem Kleidchen. Und so ging es weiter, eine bunte Schar von kleinen und großen, dünnen und dicken, jungen und alten Buchstaben-Persönlichkeiten drängte sich in das Haus in der Kurstraße 35.

„Hast du Lust, mal reinzuschauen, was die da drin machen?“, fragte Paul. Max nickte etwas beklommen. Schließlich waren das ja alles Buchstaben, und mit denen stand er ja doch eigentlich auf Kriegsfuß. Gemeinsam betraten sie das Haus und gelangten über einen hell erleuchteten Flur, über dessen Wandlampen jemand bunte Girlanden gehängt hatte in einen großen Raum, der eigentlich wie ein Klassenraum aussah, mit Schreibtischen, Stühlen, einer Tafel und vielen Postern an der Wand. Alle Tische und Stühle waren in der Ecke aufgestapelt. Daneben hatte eine Band ihre Instrumente aufgebaut. Ein „P“ in poppigen Farben spielte Akkordeon, ein schlankes „S“ verbog sich voller Eifer am Saxofon, ein schwarz gekleidetes „K“ bediente das Keyboard und am Schlagzeug wirbelte ein „X“ mit seinen gelben Armen über Trommeln und Becken.
Aber das Tollste war: Die Buchstaben tanzten! Sie bewegten sich flüssig und elegant in immer neuen Kombinationen durch den Raum, nie gab es einen Stillstand, ständig entstanden neue kleiner und größere Gruppierungen, die manchmal bunt und witzig, manchmal seriös und gediegen aussahen, nie aber langweilig! Mal sausten sich die Tänzer in rasanten Schleifen über den Boden, mal schritten sie langsame und bedächtige Polonaisen....

Und plötzlich begriff Max: Die Buchstaben tanzten eine Geschichte!

„...Max schaute vorsichtig unter sein Bett. Da war nichts. Nur ein paar Legosteine..., “ las Max aus den tanzenden und sich gruppierenden Figuren heraus. „Aber das ist ja meine Geschichte!“ rief er völlig verblüfft aus. „Richtig“, lachte Paul „Das Fest wird ja auch dir zu Ehren veranstaltet! Weil du heute 2345. Geburtsnacht hast! Aber sag mal: Hast du etwas bemerkt?“ „Etwas bemerkt? Was meinst du?“ fragte Max. Paul wollte sich fast ausschütten vor Lachen:„Du kannst lesen! Ohne Probleme!“
Tatsächlich: Max schaute wieder zu den tanzenden Buchstaben hinüber. Es war einfach zu schön anzusehen, wie sie sich zu der mitreißenden Musik in immer neuen Formen, Reihen und Bewegungen zusammenfanden, sich wieder lösten und neu gruppierten. Und Max las! Er las seine Geschichte, die von heute, von gestern, von vor einer Woche, die Geschichte seines Lebens! Er konnte gar nicht mehr aufhören, geriet fast ein einen Rausch aus Formen, Buchstaben, Geschichten...

Bis ihn Paul am Bein zupfte. „Es wird Zeit, Max. Die Nacht geht schon zu Ende. Wir müssen nach Hause!“ Max konnte es kaum glauben. Er hatte das Gefühl, erst vor wenigen Minuten hier angekommen zu sein! „Können wir nicht noch bleiben? Es ist so schön hier, so aufregend!“ Paul schaute ihn aus seinen schwarzen Glasaugen ernst an: „Du kannst ja jederzeit wieder herkommen, auch am Tag übrigens. Merk dir die Adresse. Kurstraße 35. Und erzähle deinen Eltern und deiner Lehrerin, dass du weißt, dass du Lesen und Schreiben lernen kannst! Aber jetzt müssen wir los!“
Seufzend fasst Max mit der linken Hand wieder Pauls rechtes Bein, streckte sich in die Waagerechte, nachdem Paul vom Boden abgehoben hatte, dann ging es hinaus aus dem Haus, im Steigflug hoch über die Kurstraße, über die Dächer der Schule, am Kirchturm vorbei, zu seinem Haus, ins offene Fenster hinein.

Max erwachte. Noch klang die Musik in ihm nach, noch sah er die endlos sich fortwebenden Geschichten der Buchstabentänzer vor seinem inneren Auge. „Alles nur geträumt?“, dachte er erschrocken. Doch dann bemerkte er, dass seine linke Hand fest um das rechte Bein seines Teddys Paul geklammert war. Und das Fenster stand offen. Und - hatte Paul ihm nicht eben zugezwinkert? „Kurstraße 35“, murmelte Max und sprang aus dem Bett. Jetzt wusste er, wie Lesen und Schreiben für ihn zu einem Fest werden konnte.

Bauchweh hatte er übrigens von diesem Tag an nur noch, wenn er zu viele Süßigkeiten gegessen hatte.

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